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SVIL Tagung 2006

Thema:

Was geschieht mit unserer Landwirtschaft?


88. Jahrestagung der SVIL an der ETH, Eidgen. Techn.Hochschule, Zürich
Freitag, 25. August 2006, 14 bis 17 Uhr, Hauptgebäude, ETH-Zentrum, Zürich City, Rämistrasse 101, Auditorium maximum

Referate und Diskussion

Die wirtschaftlichen Zielsetzungen in Industrie und Landwirtschaft, Gemeinsamkeiten und Unterschiede

von Prof. Hans Christoph Binswanger, St. Gallen


Landwirtschaft und Industrie haben gemeinsam, dass sie Güter liefern, die auf dem Markt verkauft werden und damit Einkommen schaffen, die sich aus dem Verkauf der Güter ergeben. In beiden Bereichen gibt es einen Marktwettbewerb. Dabei geht es immer mehr um den Wettbewerb auf dem Weltmarkt. Dies gilt nicht nur für die Industriegüter - dies ist selbstverständlich -, sondern auch für die Agrargüter. Gemäss Angaben der Welthandelsorganisation (WTO) hat der Weltmarkt für Agrargüter im Jahr 2004 ein Volumen von ca. 1'000 Milliarden Franken, also eine Billion Franken erreicht. Das sind nahezu 20% des gesamten Welthandels. Zwischen 2000 und 2004 ist der Wert der auf dem Weltmarkt gehandelten Güter um 9% gestiegen. Gemäss einem Bericht der OECD wird der Handel mit Agrargüter weiterhin rasant zunehmen. Bis zum Jahr 2015 wird bei Weizen ein Wachstum von 18% erwartet, bei Rindfleisch von 25%, bei Ölsaaten von 35%.
Gemeinsam ist für die Landwirtschaft und Industrie aber auch, dass da wie dort unternehmerische Fähigkeiten gefordert sind, auch wenn sie in der Landwirtschaft vielfach erst entwickelt werden müssen, weil die Zeiten vorbei sind, wo der Bauer entweder traditionell immer das gleiche und in gleicher Weise produziert hat oder einfach den Anweisungen der Behörden folgen konnte. Heute muss er sich darum kümmern, welche Produktion sich für ihn individuell eignet sowohl entsprechend seinen Fähigkeiten, als auch entsprechend den Marktverhältnissen und den wechselnden agrarpolitischen Bestimmungen.
Aber es gibt auch entscheidende Unterschiede zwischen Landwirtschaft und Industrie sowohl bezüglich der Markt- wie der Produktionsbedingungen. Diese sind in der Landwirtschaft so gestaltet, dass sie nicht im gleichen Masse vom Wachstumsprozess profitieren kann wie die Industrie und erst recht nicht wie der auf der Industrie aufbauende Dienstleistungssektor. Dies lässt sich wie folgt erklären.

Erstens zu den Wettbewerbsbedingungen: Die Marge zwischen Preisen und Kosten ist in der Landwirtschaft grundsätzlich kleiner als in der Industrie. Dies ergibt sich daraus, dass die landwirtschaftlichen Güter im wesentlichen homogene, d.h. vergleichbare Güter sind, also solche, deren Qualität im Prinzip die gleiche ist, unabhängig vom Ort, wo sie produziert werden. Sie sind ohne weiteres austauschbar. Ihre Qualität ist mehr oder weniger die gleiche, ob sie vom Bauer X oder vom Bauer Y produziert werden. Es ist daher dem Konsumenten und erst recht dem industriellen Verarbeiter im allgemeinen gleichgültig, von wem er das Getreide, die Kartoffeln, den Salat und die Äpfel, die Milch und den Emmentalerkäse bezieht. Allein der Preis entscheidet. Konkurrenz heisst in der Landwirtschaft daher - von wenigen Ausnahmen abgesehen - immer Preiskonkurrenz. Dabei ist eine Vielzahl von Bauern beteiligt, die sich gegenseitig Konkurrenz machen, wobei jeder nur über einen kleinen Teil des Gesamtangebots verfügt. In der ökonomischen Theorie spricht man in diesem Fall von vollkommener Konkurrenz. Ein Bauer kann seine Produkte nur absetzen, wenn er höchstens den gleichen Preis verlangt wie die anderen Bauern, und er kann seinen Marktanteil nur vergrössern, wenn er den Preis senkt. Dann müssen aber die anderen nachziehen. Der Markt lässt daher nur geringe Margen zwischen Preis und Kosten zu.
Dies ist grundsätzlich anders bei den Industrieprodukten. Die Industrieprodukte unterscheiden sich in ihrer Qualität je nach der Art der Verarbeitung. Man spricht von heterogenen, d.h. unterscheidbaren Gütern. Aus wenigen Naturprodukten werden Tausende von Industrieprodukten. Die Konkurrenz kann sich deswegen auch bei hohen Preisen in Form von Qualitäts- und Markenkonkurrenz abspielen. Eine Palmolive-Seife ist eine andere Seife als Schmierseife! Man spricht in der ökonomischen Theorie in diesem Fall von monopolistischer Konkurrenz. Dank der Imagination, d.h. die Erfindungsgabe des Menschen, können die Produkte umso stärker differenziert werden, je mehr man sich von der Naturgundlage entfernt. Der Produzent kann relativ zu den Kosten höhere Preise verlangen und trotzdem den Konkurrenten ausstechen, indem die neuen Produkte oder Produktvarianten den Konsumenten einen echten ¬- oder auch nur vermeintlichen - Zusatznutzen stiften.

Zweitens zu den Produktionsbedingungen:
In der Landwirtschaft ist der Boden gleichzeitig Standort und Produktionsgrundlage, während er für die Industrie nur Standort ist. Die Höhe der Produktion hängt daher für den landwirtschaftlichen Betrieb in entscheidendem Ausmass von der zur Verfügung stehenden Bodenfläche ab. Diese bildet daher einen begrenzenden Faktor. Es gilt das Gesetz vom abnehmenden Bodenertrag, dem gemäss ein zusätzlicher Arbeitsaufwand auf einer bestimmten Bodenfläche nur einen unterproportionalen Ertragszuwachs liefert. Der Ertrag kann zwar trotzdem durch steigenden Maschineneinsatz und Zufuhr von Hilfsstoffen, d.h. von Düngemitteln und Chemikalien aller Art, weiter gesteigert werden. Aber auch diese Steigerung ist begrenzt, weil die Landwirtschaft in die ökologischen Kreisläufe eingeordnet ist. Das hat einmal zur Folge, dass die Maschinen auf ihren Einsatz im jahreszeitlichen Rhythmus warten müssen. Sie kommen im Jahresverlauf nur kurz zum Einsatz. Man kann ja nicht die gleichen Maschinen für das Acker, das Säen, das Jäten, das Ernten usw. verwenden. Es droht daher ständig, dass zu hohe fixe Kosten anfallen, die nicht amortisiert werden können. Zum andern ist aber auch die Möglichkeit zum Einsatz von Düngemitteln und Chemikalien begrenzt, weil sie die Kräfte, die in der Natur wirken, zwar verstärken, aber nicht ersetzen können. Ihr Einsatz kann daher nicht maximiert werden. Man muss sich auf ein Optimum beschränken. Dabei muss auch auf die gesundheitliche Qualität der Produkte Rücksicht genommen werden.
Demgegenüber kann die industrielle Fabrik auf einer geringen Standortfläche eine grosse und immer grössere Produktionsmenge herstellen, indem die Materialien, welche die Produktionsgrundlage bilden, von aussen zugeführt werden. Sie stammen zum grossen Teil aus Rohstoffen, die sich unter der Erde an bestimmten Lagerstätten angesammelt haben und nun sozusagen einfach auf ihre Ausbeutung "warten". Diese kann von Jahr zu Jahr gesteigert werden, ohne dass wesentlich mehr zusätzliche Bodenfläche verbraucht wird. Der Grossteil der Rohstoffvorräte liegt ja nicht auf, sondern unter dem Boden. Mit immer grösseren Maschinen, die im Jahresverlauf ohne Unterbruch eingesetzt werden, wird sowohl die Ausbeutung der Rohstofflager wie die Produktion der Halbfabrikate und Fertigprodukte aufgrund der Möglichkeiten zur Massenproduktion immer effizienter. Die Maschinen können voll genutzt und so die Amortisation der Maschinen gewährleistet werden, indem die Produktion bei gleichzeitiger Senkung der Durchschnittskosten auf geringer Bodenfläche in dem Ausmass erweitert wird, als sich der Kapitaleinsatz erhöht. Dieser Ausweitung sind im heutigen Wachstumsprozess kaum Schranken gesetzt.
Aus beiden Gründen - wegen höherer Margen aufgrund der monopolistischen Konkurrenz und der Möglichkeit zur ständigen Ausweitung der Rohstoffbasis im Zusammenhang mit den Kostenvorteilen, welche die Massenproduktion bietet - ist die Wertschöpfung in der Industrie systematisch höher als in der Landwirtschaft. Dies ergibt sich aus objektiven Gegebenheiten und hat nichts mit einer allfällig geringeren unternehmerischen Fähigkeit der Bauern zu tun.
Unterschiede in der Wertschöpfung bestehen allerdings nicht nur zwischen Landwirtschaft und Industrie, sondern auch innerhalb der Landwirtschaft. Der generelle Nachteil der geringeren Wertschöpfung in der Landwirtschaft ist unterschiedlich ausgeprägt in den verschiedenen Regionen der Welt. Er ist dort weniger spürbar, wo noch genügend Boden zur Verfügung steht, der praktisch nur landwirtschaftlich genutzt werden kann, wo also der Verkehrswert des Bodens gleich dem landwirtschaftlichen Ertragswert ist. Hier ist die Möglichkeit zur ständigen Produktionssteigerung bei geringerem Arbeits- und höherem Maschineneinsatz eher gegeben. Dies gilt vor allem für die USA, Kanada, Australien, Neuseeland und Teilen von Südamerika. Umgekehrt ist der Nachteil der geringeren Wertschöpfung der Landwirtschaft wesentlich spürbarer in einem Industrieland wie der Schweiz, wo der Boden vielfachen Nutzungsansprüchen ausgesetzt ist, insbesondere der baulichen Nutzung, hinter der die grössere Kaufkraft derjenigen steht, die von der höheren Wertschöpfung in der Industrie und in dem mir ihr verbundenen Dienstleistungssektor profitieren. Sie können daher wesentlich höhere Bodenpreise bezahlen. Dies bedeutet, dass der Verkehrswert des Bodens weit höher ist als der landwirtschaftliche Ertragswert, soweit dieser überhaupt noch positiv ist. Dies verunmöglicht eine Ausdehnung der Produktionsfläche und damit der Betriebsgrösse, die mit den Grossbetrieben in den Weltregionen mit billigem Boden vergleichbar wäre.
Die Benachteiligung der Landwirtschaft gegenüber der Industrie wird dadurch weiter verschärft, dass die Landwirtschaft in den Exportländern, die auf billigem Boden wirtschaftet, darauf angewiesen ist, die quantitative Produktionsausweitung stets weiter zu forcieren, um ihren auch dort bestehenden Wettbewerbsnachteil gegenüber der Industrie zu kompensieren. Dazu genügt die Ausweitung des Binnenmarkts nicht. Auch der Export muss erhöht werden. Deswegen ist ja der Agrarhandel in der Welt so enorm angestiegen und steigt weiter an. Auch wenn ein Teil des Zuwachses durch die Erhöhung der allgemeinen Nachfrage bedingt ist, die durch das Bevölkerungswachstum und der Reichtumsvermehrung in der Dritten Welt ausgelöst wird, ist die für die Exportländer nötigen Zunahme des Exports doch nur möglich, wenn er die Eigenproduktion in den Importländern verdrängt. Um dies zu bewerkstelligen genügt es nicht einmal, zu den tieferen Produktionspreisen anzubieten, die sich aus der Verfügbarkeit billigen Bodens ergeben, vielmehr wird noch durch staatliche Exportsubventionen nachgeholfen, um den Wettbewerbsnachteil der Landwirtschaft gegenüber der Industrie auszugleichen. Dies bedeutet, dass die Weltmarktpreise noch unter den Produktionspreisen in den Exportländern zu liegen kommen. Weil die USA unbedingt an ihren Exportsubventionen festhalten wollen, um ihrer Landwirtschaft zu helfen, ist ja auch die Dauha-Runde der WTO gescheitert.
Das Fazit dieser Feststellungen ist, dass ohne die Schutzmassnahmen, die die Schweiz als Industrieland zugunsten der Landwirtschaft eingeführt hat, diese gegen Null schrumpfen würde.
Zu diesen Schutzbestimmungen gehören, wie Sie wissen, heute neben einer ganzen Reihe von Einzelmassnahmen vor allem
• das bäuerliche Bodenrecht,
• die Ausscheidung von Landwirtschaftszonen,
• die flächenabhängigen Direktzahlungen, kombiniert mit Marktstützungsmassnahmen,
• sowie der Schutz an der Grenze durch Agrarzölle.

*

Nun kann man darüber diskutieren, ob der bestehende Mix an Massnahmen zum Schutz der Landwirtschaft der richtige ist, und ob die Landwirtschaft durch gewisse Umorientierungen unter Berufung auf die Möglichkeit zur Verstärkung unternehmerischen Handelns in der Landwirtschaft dazu helfen kann, das Ausmass des Agrarschutzes zu reduzieren. Aber alle Umorientierungen werden - ich wiederhole - nicht dazu führen können, dass die Landwirtschaft in der Schweiz ohne Schutz aufrechterhalten werden kann. Vor der Diskussion um den richtigen Mix der Agrarschutzmassnahmen muss also die Frage beantwortet werden, ob die Agrarschutzmassnahmen nur dazu dienen sollen, die Gesundschrumpfung der Landwirtschaft in Richtung Null zu erleichtern, oder ob wir in der Schweiz dauerhaft eine landwirtschaftliche Produktion beibehalten wollen.
Dazu kann man sicherlich unterschiedlicher Meinung sein. Man kann die Auffassung vertreten, dass, um im doppelten Sinne des Wortes vermehrt Boden für das wirtschaftliche Wachstum zu gewinnen, die Landwirtschaft immer weiter schrumpfen soll. Siehe den Streit um Galmiz! Dann könnte man auch, ergänzend, in den Berggebieten, wo keine Überbauung vorgesehen ist, die Natur sich ihren eigenen Weg bahnen lassen, indem man sich der Verbuschung und Ausbreitung des Waldes und damit eine gewisse Neo-"Ökologisierung" der Berg- und Hügelgebiete nicht mehr durch landwirtschaftliche Pflegemassnahmen in den Weg stellt.
Ich bekenne, dass ich im Gegensatz dazu der Meinung bin, dass die Aufrechterhaltung der Landwirtschaft für unser Land unabdingbar ist. Die Landwirtschaft in der Schweiz kann zwar im Expansions- und Wachstumstrend nicht mithalten, doch sie ist notwendig zur Sicherung der Nahrungsgrundlage. In den Exportländern wird die Bebauung des Bodens immer mehr in einer Weise betrieben, die hohen Risiken in sich trägt: Monokulturen, massiver Chemieeinsatz, Hochzüchtung von Nutztieren, in Zukunft vor allem Einsatz von Gentechnologie. Die Bodenerosion durch Destabilisierung und Ausräumung der Agrarlandschaft, durch einseitige Fruchtfolge und sogenannte rationelle Produktionsmethoden, durch Versalzung der Böden und vor allem durch übermässige, agrarklimatisch nicht angepasste Bewässerungsmethoden schreitet voran (ca. 20 Prozent der gesamten Anbaufläche in den USA sind durch Bodenerosion gefährdet). Die Erreger von Pflanzenkrankheiten werden gegen Pestizide und Insektizide zunehmend immun. Hochgezüchtete Tiere sind in immer stärkerem Ausmass Krankheiten ausgesetzt. Gentechnologische Freilandexperimente können unvorhergesehene Folgen haben. Das Produktivitätspotential der Landwirtschaft wird durch Rückstandsbelastungen, vor allem durch Schwermetalle, gefährdet.
Dazu kommt, dass immer mehr Produkte der Nahrungsmittelindustrie - sog. Convenient-Food-Produkte - angeboten werden, die nicht den gleichen Nährwert haben wie die frischen Landwirtschaftsprodukte. Der Mensch lebt, wie wir wissen, nicht vom Brot allein, aber er lebt auch vom Brot, und vor allem vom gesunden Brot. Um die Versorgung mit gesundem Brot zu sichern - Brot natürlich hier als Metapher gemeint für alle Agrarprodukte -, ist es notwendig, eine konsumnahe Produktion aufrechtzuerhalten, und zwar eine Produktion, die nicht ständig forciert werden muss, bei der also grösseres Gewicht auf Qualität als auf Quantität gelegt, und die Qualität auch kontrolliert werden kann.
Die Schweiz wird voraussichtlich in Zukunft wegen der zunehmenden Wasserknappheit in vielen Teilen der Welt in der landwirtschaftlichen Produktion einen grossen Vorteil haben: Dieser Vorteil ist ihr Wasserreichtum. Sie kann ihn aber nur wahrnehmen, wenn die Landwirtschaft noch existiert!
Es besteht für mich kein Zweifel: Die Landwirtschaft in der Schweiz aufzugeben ist lebensgefährlich. Sie aufrechtzuerhalten heisst, sich nicht nur gegen unvorhersehbare, sondern gegen schon deutlich vorhersehbare Risiken zu versichern.
Ganz allgemein gilt: Alles auf das Wachstum des Bruttosozialprodukts zu setzen, ist ein Roulettespiel, bei dem man am Schluss mit Sicherheit verliert. Es ist bekannt, dass man auf den einfachen Chancen des Spieltisches im Roulette im Prinzip alle Verluste ausgleichen kann, wen man bei jeden Verlust den Einsatz verdoppelt. Damit es nicht dazu kommt, erlaubt daher die Spielbank - sie lebt ja vom Verlust der Spieler - die Erhöhung des Einsatzes nur bis zu einem bestimmten Betrag. In der Realität der Welt gibt es zwar keine Spielbank, die die Einsätze beschränkt. Trotzdem gibt es diese Beschränkung. Sie ergibt sich aus der Begrenzung der Welt selbst, die eine stete Erhöhung de Einsätze nicht zulässt. Die Natur und die natürlichen Schranken der Nahrungsmittelproduktion können nicht einfach überspielt werden, ohne entsprechende Verluste zu riskieren. Der kluge Spieler wird daher, gerade wenn er gewonnen hat, zumindest einen Teil des Gewinns zurückbehalten, um nicht alles wieder zu gefährden, und nur mit dem Teil des Gewinns weiterspielen, den er verspielen darf, ohne Bankrott zu machen. Die Schweiz hat bisher im "Wachstumsspiel" mehr gewonnen als die meisten anderen Länder. Jetzt alles zu gefährden, indem man die physische Existenzsicherung ausser acht lässt und ausschliesslich auf weiteres Wachstum setzt, ist töricht.
Allerdings geht es nicht nur um die Existenzsicherung, sondern auch - dazu möchte ich mich ebenfalls bekennen - um die Aufrechterhaltung der Kulturlandschaft und der Besiedlung in der Bergwelt, die das Gesicht der Schweiz wesentlich prägt. Dabei muss auf die ökologischen Erfordernisse Rücksicht genommen werden, insbesondere auf die Aufrechterhaltung der Artenvielfalt. Dies wird sowohl durch forcierte Produktion wie durch Verbuschung und Verwaldung gefährdet. Die Neo-"Ökologisierung" ist keine echte Ökologisierung!
Welche Konsequenzen ergeben sich aus diesen Feststellungen für die Agrarpolitik unseres Landes? Es ist nicht meine Aufgabe, im Detail darauf einzugehen. Dazu soll vielmehr die folgende Diskussion dienen. Es sei nur soviel gesagt: Die AP 2011 ist darauf angelegt, die "Gesundschrumpfung" der Landwirtschaft gegen Null zu verzögern. Aber sie hat sie trotzdem im Visier. Dies wird deutlich durch die vorgesehene Lockerung der Bestimmungen des bäuerlichen Bodenrechts - Erhöhung der Gewerbegrenzen, Aufhebung von Preis- und Pachtzinsvorschriften sowie der Belehnungsgrenzen, und Entlassung der Bauzone aus dem landwirtschaftlichen Pachtgesetz - sowie der Aufweichung der Beschränkungen für die bauliche Nutzung des Bodens in der Landwirtschaftszone.
Die landwirtschaftliche Produktion kann aber auch gefährdet werden durch eine zu starke Ausrichtung auf Direktzahlungen. Zwar ist die beabsichtigte Umstellung der Milchpreisstützung auf Beiträge zur Kuhhaltung, die praktisch auf eine flächenabhängige Direktzahlung hinausläuft, durchaus sinnvoll. Aber die Direktzahlungen können nicht alles leisten. Es geht um die richtige Dosierung. Ich sage dies, obwohl ich seinerzeit mit Herrn Popp zusammen - damals Vizedirektor des Bundesamtes für Landwirtschaft - die Idee der Direktzahlungen lanciert habe. Deren Einführung hat zweifellos wesentlich mitgewirkt, die landwirtschaftliche Bewirtschaftung des Bodens zu erhalten. Sie hat es auch ermöglicht, die Marktverzerrungen zu reduzieren, die sich aus der Einkommensstützung ausschliesslich über die Preise ergeben und zur nicht-absetzbaren Überschussproduktion beigetragen haben. Aber die Direktzahlungen dürfen nicht ein solches Gewicht erhalten - das habe ich auch nie propagiert -, dass gerade nur noch die minimale Pflege des Bodens garantiert ist, nicht aber auch die landwirtschaftliche Produktion.
Wenn aber die Direktzahlungen für die Einkommensstützung nur begrenzt einsetzbar sind, darf der Schutz an der Grenze nicht leichtfertig aufgegeben werden. Wie Richard Senti jüngst in einem Artikel in der NZZ vorgerechnet hat, ist der Produktionswert der in der Schweiz erzeugten nahrungsmittelrelevanten Agrargüter um ca. 2 Milliarden Franken niedriger, wenn die Produktion nur zu Auslandpreisen bezahlt wird. Um den Schweizer Bauern das gleiche Einkommen zu garantieren, müssten sie daher bei einer Liberalisierung des Aussenhandels, wenn keine weiteren Anpassungen vorgenommen werden, mit diesem Betrag entschädigt werden. Dies gilt, wenn die Vorleistungen entsprechend verbilligt werden. Falls dies nicht der Fall ist, würden noch weitere 700 Millionen Franken dazu kommen.
Nun wird allerdings gesagt, dass durch entsprechende Anpassungen im Sinne der "Gesundschrumpfung" der Bauernbetriebe einerseits, gewisser Marktanpassungen andererseits, die verbleibenden Bauern das Einkommensniveau auch bei einer weiteren Öffnung des Schweizer Markts ohne eine entsprechende Entschädigung halten könnten. Insbesondere sollen - das ist das Ziel der AP 2011 - durch Strukturbereinigung, d.h. durch Halbierung der Betriebszahl und Erhöhung der Betriebsgrösse auf 40 ha - und der dadurch ermöglichten Kostensenkung die Bauern ein Einkommen erwarten dürfen, das die Landwirtschaft auch bei sinkenden Preisen noch genügend attraktiv macht. Sicher wird die Strukturbereinigung weitergehen. Warum aber sollen 40 ha für die Erzielung eines genügenden Einkommens ohne Grenzschutz genügen, wenn im Ausland die Betriebe über zusammenhängende Flächen von 1000 ha und mehr verfügen? Wird es dann, wenn die Durchschnittsgrösse von 40 ha erreicht ist, nicht heissen, jetzt müssten Grössen von 50, 60, 70 ha usw. anvisiert werden? Solche Grössen sind in der zersiedelten Schweiz gar nicht erreichbar, wenn es sich um zusammenhängende Flächen handeln soll. Bei nicht zusammenhängenden Flächen können ja die Kostenvorteile bei steigender Betriebsgrösse gar nicht wahrgenommen werden! Ausserdem kommt es nicht nur darauf an, dass irgendwelche Flächen zur Verfügung stehen. Vielmehr müssen es beim Ackerbau auch geeignete Fruchtfolgeflächen sein.
Allerdings sind auch Marktverbesserungen im Blickfeld. Diese sollen trotz der ausländischen Konkurrenz Preiserhöhungen durch Qualitätsverbesserungen und damit auch eine höhere Wertschöpfung möglich machen. Dies ist sicher in einem gewissen Ausmass realisierbar. Dies gilt insbesondere für den Wein. Der Weinanbau ist aber eine Sparte für sich. Im Übrigen handelt es sich eher um die Nutzung gewisser Nischenvorteile. Im Vordergrund steht die Spezialisierung auf gewisse Käsesorten, die auch im Ausland verkauft werden können. Es geht vor allem um den deutschen Markt. Hier wurden bereits grössere Erfolge erzielt. Mehr und mehr ist aber die Konkurrenz durch französischen und holländischen Käse zu spüren, der ebenfalls auf den deutschen Markt drängt. Es wird daher schon ein grosser Einsatz zu leisten sein, nur um die Marktanteile zu halten. Die Erwartungen dürfen daher nicht allzu hoch geschraubt werden.
Bedeutungsvoll ist allerdings die Stärkung der biologischen Landwirtschaft, die übrigens besser in Kleinbetrieben gedeiht, weshalb auch nicht alles auf eine Vergrösserung der Betriebsfläche gesetzt werden sollte. Wegen der Bevorzugung biologischer Produkte ist ein Teil der Bevölkerung bereit, etwas höhere Preise zu bezahlen. Aber auch der Ausweitung der biologischen Landwirtschaft sind Grenzen gesetzt, sowohl von der Angebots- wie von der Nachfrageseite her. Die Umstellung der Produktion vom konventionellen zum biologischen Betrieb benötigt u.U. mehrere Jahre. Wenn der Kundenkreis genügend gross bleiben bzw. noch erhöht werden soll, ist auch nur eine geringe Preisdifferenz zwischen den biologischen und den konventionellen Produkten zulässig. Diese muss zudem höhere Produktionskosten ausgleichen.
Weitere Möglichkeiten zur Steigerung der Wertschöpfung ergeben sich aus der Ausweitung der Direktvermarktung und den Bestrebungen zur Versorgung mit Nahrungsmitteln aus der jeweiligen Region. Nützlich ist auch die Einführung des Labels "Suisse Garantie".
Aber alle diese Massnahmen können in keiner Weise genügen, um die Benachteiligung der Schweizer Landwirtschaft gegenüber der ausländischen Konkurrenz in Höhe von 2 bzw. 2,7 Milliarden Franken und erst recht nicht gegenüber den generell besseren Produktions- und Marktbedingungen der Industrie auszugleichen.
Ich wiederhole: Man kann verschiedener Meinung darüber sein, ob die Landwirtschaft in der Schweiz aufrechterhalten oder ob sie auf Null zusammenschrumpfen soll. Aber man darf sich nicht an dieser Frage vorbei schleichen, indem man so tut, als ob die Landwirtschaft in unserem Land nur aufgrund des vorgesehenen Strukturwandels und einzelner Verbesserungen der Marktbedingungen ohne zusätzliche Transferzahlungen der einen oder anderen Art aufrechterhalten werden kann. Die Existenzfrage ist gestellt.
Wenn man die Landwirtschaft in der Schweiz aufgeben will, ist die AP 2011 in der vorliegenden Form ein guter Weg dazu. Wenn man sie aber aufrechterhalten will, müssen wesentliche Teile des AP 2011-Projekts revidiert werden. Insbesondere muss auf die vorgesehene Lockerung des bäuerlichen Bodenrechts verzichtet werden, ebenso auf die Aufweichung der Bestimmungen über die Landwirtschaftszone. Die Direktzahlungen sowohl in Form der allgemeinen wie der ökologischen Direktzahlungen müssen beibehalten werden. Aber über ihre optimale Ausgestaltung, auch im Hinblick auf ihre Auswirkung auf die Produktionsaufgabe der Landwirtschaft, sollte nochmals diskutiert werden.Die Frage des Freihandelsabkommens mit der EU muss mit aller Vorsicht angegangen werden. Für mich überwiegen die Bedenken, zumal die EU die Osterweiterung unter Einbezug von Rumänien und Bulgarien im nächsten Jahr verkraften muss. Dies führt, da die Gesamtmittel zur Förderung der Landwirtschaft plafoniert worden sind, dazu, dass pro Betrieb bzw. Betriebsfläche wesentlich weniger Mittel zur Verfügung stehen werden. Dies ist zu bedenken.

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Gestatten Sie mir zum Schluss noch einen Hinweis auf den griechischen Mythos vom Riesen Antaios. Er war der Sohn des Meergottes Poseidon und der Erdgöttin Gaia und ein gewaltiger Ringer. Seine Riesenkräfte schöpfte er aus der Berührung mit der Erde, aus der er - der Sohn der Erdgöttin Gaia - hervorgegangen war. Sobald er im Ringkampf den Bodenkontakt verlor, verlor er alle seine Kräfte. Sobald er, zu Boden gegangen, die Erde wieder berührte, gewann er seine Riesenkräfte zurück. Er schien unbezwingbar, bis sein Vetter Herakles ihn kurzerhand oder vielmehr langen Arms in die Luft stemmte und dort in der Luft erwürgte. Ich meine, wir wären ebenso gefährdet wie Antaios, wenn wir den Boden nur noch als asphaltierten oder betonierten Standort wahrnehmen, uns damit von der fruchtbaren Erde abheben und so die eigene Ernährungsbasis aufgeben. Der Mythos von Antaios sollte uns eine Warnung sein!

Diskussion_

Kurzzusammenfassung, wie weiter?